Diesen Text habe ich im August 2017 geschrieben. Ich fahre kaum noch S-Bahn. Was aus D. wurde, weiß ich nicht.
Das erste Mal begegnete ich D. vor zwei Jahren in der S-Bahn. „Hat jemand Interesse an ’ner Obdachlosenzeitschrift oder vielleicht ’ne kleine Spende? ... Ok. Trotzdem noch ’nen schönen Tag.“ Ich beachtete ihn nicht weiter. Dann sah ich ihn wieder und wieder. Fast immer, wenn ich in der S25 saß, war er da, mit denselben Worten, in derselben Tonlage. Irgendwann sprach ich ihn an, und wir redeten. Nur kurz, er musste ja weiterarbeiten.
Wenn wir uns danach trafen, lief er erst den Wagen ab und kam dann zu mir zurück. Ich erfuhr Schnipsel aus seinem Leben, gerade so viel wie in 30 Sekunden passt: 24 Jahre alt, elf Geschwister, das jüngste ein halbes Jahr alt. Manchmal deutete er Dinge an, wich dann aber aus. Das Wort Peiniger fiel. Auch über seine Mutter wollte er eigentlich nicht reden – und tat es dann doch. Sie solle ihn in Ruhe lassen. Für immer.
An einem kalten Tag fragte ich ihn, ob er Klamotten brauche. Er sah schwach aus und hustete. Ich besorgte ihm einen Pulli, ein paar T-Shirts und bekam von einer Freundin eine Hose und eine richtig warme Jacke. In dieser Zeit fuhr ich kaum mit der S25 und musste auf den Zufall hoffen. Ich suchte ihn, fand ihn nicht, suchte weiter, wartete ein paar Mal frierend, aber vergeblich an einer S-Bahn-Haltestelle, bat schließlich Freunde und Kolleginnen, ihm meine Telefonnummer zu geben, falls sie ihm begegneten, und bekam nach wirklich langer Zeit einen Anruf: „Hallo, hier ist D. aus der S-Bahn. Ich bin im Krankenhaus.“
Es war Glück, dass er noch am Leben war. Eine Frau hatte die Verletzung an seiner Hand gesehen und ihn sofort in die Notaufnahme geschickt. Sie war es auch, die ihm half, als er im Krankenhaus war. Sie besorgte ihm ein Handy und sorgte dafür, dass er nach dem Krankenhaus in eine geschlossene Klinik kam, um seine psychischen und andere Probleme behandeln zu lassen. Manchmal bekam ich Nachrichten von ihm: „Die jacke hält warm, danke katrin.“ Oder: „Schönen 2 advent wünsch ich euch alle.“
Sein Leben schien besser, einfacher, vielleicht sogar schöner zu werden. Manchmal fiel er noch in das schwarze Loch, das er von früher kannte. Aber er bekam viel Hilfe, hatte wohl auch eine Freundin. Irgendwann hörte ich nichts mehr von ihm. Seine Nummer war nicht mehr erreichbar. Ich dachte, alles sei gut.
Vor ein paar Wochen begegnete ich ihm wieder in der S-Bahn. Er sagte seinen Spruch auf – und ich brach innerlich zusammen. Ich hatte keine Ahnung, was in der Zwischenzeit passiert war.
Ich: „Hey, was machst du hier?“
Er: „Na, arbeiten.“
Er sah nicht gut aus. Seine Zähne hatte er bis auf die beiden vorderen verloren, und auch sie sahen nicht so aus, als würden sie noch lange halten. Er versicherte mir, er würde jetzt mit seiner Freundin zusammenwohnen, es gehe ihm okay, immer mal wieder schlecht, aber okay. Bald werde er neue Zähne bekommen, und bald habe er auch einen Termin beim Arbeitsamt.
Seitdem sehe ich D. wieder öfter. Manchmal erkennt er mich nicht. Ich weiß nicht, woran das liegt.
Dann gestern: Ich sitze in der S-Bahn, höre Musik und schaue aus dem Fenster. Da sehe ich im Augenwinkel jemanden winken. Es ist D. Ich nehme die Kopfhörer ab. Die S-Bahn fährt in den nächsten Bahnhof.
Ich: „Komm her.“
Er: „Nee, ich muss in den nächsten Wagen. Komm doch mit.“
Ich: „Ich hab zu viel Gepäck.“
Er: „Ich helf dir.“
Ich: „Also gut.“
Wir schnappen meine Sachen, rennen zum nächsten Wagen und drücken uns gerade noch so durch die Tür. D. lacht.
Er: „Ich komm gleich.“
Er läuft den Wagen ab, sagt seinen Spruch ein paar Mal auf, kommt zurück, spielt mit dem Geld, das er bekommen hat, und erzählt mir wieder von seiner Freundin, bei der er eigentlich wohnt, die aber gerade nicht in Berlin ist. Den Schlüssel hat er nicht. D. hat sich seit Wochen nicht mehr gewaschen, seine Klamotten haben Löcher, seine Hände sind dreckig und wund. Ich würde ihm so gerne alles glauben, aber ich tue es nicht.
Ich meine, aus seinen Worten Sehnsucht nach einem normalen Leben herauszuhören. Aber vielleicht täusche ich mich auch. Vielleicht will ich das mehr als er. Vielleicht ist zu viel in ihm zerbrochen, als dass das noch möglich wäre.
Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn ja eigentlich gar nicht.
Manchmal frage ich mich: Darf man irgendwann loslassen? Darf man sich zurückziehen, wenn jemand das scheinbar bessere Leben, das man ihm ermöglichen möchte, entweder nicht will oder nicht leben kann – aus welchen Gründen auch immer? (Damit meine ich nicht mich selbst, sondern diese unglaubliche Frau, die ihn gerettet hat, und all jene, die anderen helfen und sich eines Tages vielleicht fragen, ob das, was sie tun, überhaupt Sinn ergibt.)
Oder darf man einen Menschen nie aufgeben?
Ein berührender Beitrag mit einer Frage, die wir uns immer und immer wieder stellen. Ich halte die Selbstaufgabe für die gefährlichste Aufgabe eines Menschen. Der Rest kann und darf sich daraus ergeben.🖋️