Die Idee für diese Kurzgeschichte entstand 2013 nach einer Recherche, die mir sehr naheging. Damals schrieb ich nur den Anfang, Jahre später das Ende. Jetzt ist sie fertig.
Eines Morgens, der Tag spielt keine Rolle, genauso wenig, wie das Wetter war und wonach es roch, stand Helene Maier auf einer Brücke, kletterte über die Brüstung und sprang. Vielleicht lief ihr während des Falls noch einmal ihr Leben durch den Kopf, vielleicht auch nicht. Fest steht, ohne Zweifel: Als sie unten ankam, war sie tot.
Vielleicht hätte sie an die roten Schuhe gedacht, die sie als Fünfjährige von ihren Großeltern zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte und die sie nie wieder ausziehen wollte, obwohl sie vorne ein wenig drückten. Nach der Bescherung hatte ihr Vater sie auf seinen Armen nach Hause getragen. Er dachte, sie sei zu müde zum Laufen. Sie dachte an den Schnee, den Matsch und ihre Schuhe. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig und gleichmäßig, so, als würde sie schlafen. „Ich leg sie gleich ins Bett, dann wacht sie nicht auf“, hatte der Vater der Mutter zugeflüstert, als sie zu Hause ankamen. Nichts wünschte sich Helene mehr als das. Er legte sie vorsichtig hin, nahm ihr die Mütze vom Kopf und öffnete ihre Jacke. Dann streichelte er ihr über den Kopf, deckte sie zu und ging aus dem Zimmer. Ihre Schuhe hatte er vergessen. Helene hatte das nicht. Sie lächelte.
Vielleicht hätte sich Helene auch an ihren ersten Kuss erinnert, so schön und merkwürdig zugleich. Plötzlich hatte sich ein Gefühl in ihrem Bauch und ihrer Brust, ja, im ganzen Körper ausgebreitet, das sich so überwältigend und grundsätzlich angefühlt hatte, dass sie dachte, es würde nie wieder weggehen. Den Jungen, den sie küsste – und er sie – kannte sie aus der Schule. Ein Sohn aus einfachem Hause hätten ihre Eltern über ihn gesagt, wenn sie ihn denn kennengelernt hätten. Doch Helene versuchte es nicht einmal. Es blieb bei diesem einen Kuss und einer Ahnung davon, wie sich Liebe anfühlte.
Vielleicht wäre ihr ihre Hochzeit in den Sinn gekommen: Sie in Weiß mit einem Schleier, wie sie es sich immer ausgemalt hatte. Blumenmädchen, Brautjungfern, Essen vom Feinsten, eine Torte mit drei Etagen. „Traumhochzeit“, hatten die Verwandten dazu gesagt. „Der ist aber auch eine gute Partie“, die Nachbarin. „Ein wirklich schöner Tag“, ihre Mutter. Helene hatte sich glücklich gefühlt, leicht und stolz. Sie war jetzt „die Frau Maier“ – würde es für immer sein. Sie zog zu ihm, hundert Kilometer weit weg, wo sie niemanden kannte außer ihm, räumte ein paar Dinge in der Wohnung um und übte ihre neue Unterschrift.
Vielleicht hätte sie ihren ersten Urlaub gesehen, mit Strand und Sonne, Hotel und Büfett und allem Drum und Dran. Es gab kein Foto von ihnen beiden. Nur Helene am Strand, vor einer Statue, einer Kathedrale, auf einem Berg, neben einem Musikanten, auf einer Treppe, im Restaurant. „Stell dich mal da hin. Weiter rechts. Weiter. Nein, nicht da. Da! Ja, so bleiben. Halt! Nicht bewegen. Ja, nein. Ja, Mensch, Helene, wie soll ich denn so ein Foto von dir machen?“
Sicherlich hätte sie ihre Kinder noch einmal aufwachsen sehen. Welche Mutter hätte das nicht? Das erste Kind hatte sie verloren. Ob Helenes Verstand wohl zugelassen hätte, sich an diesen Teil ihres Lebens zu erinnern? Das zweite Kind war ein Mädchen, das dritte ein Junge. Helene hatte versucht, eine gute Mutter zu sein, war immer da, tröstete, kümmerte sich, kämmte Haare, las vor, sang Lieder, half beim Lernen. Die Kinder wurden größer und ehe sie sich’s versah, zogen sie aus – weit weg – und lebten ihr eigenes Leben. Sie riefen selten an. Pflichtbewusst erzählten sie dann: „Ja, geht gut. Die Arbeit ist anstrengend. Ja, bei uns regnet es auch die ganze Zeit. Hört einfach nicht auf. Du, sei mir nicht böse, ich bin müde.“ Helene kämpfte immer mit den Tränen, wenn sie auflegte. Den Kloß im Hals spürte sie noch Stunden später und erschrak bei dem Gedanken daran, ob die beiden es überhaupt merken würden, wenn sie nicht mehr da wäre. Die letzten fünf Jahre hätten gefehlt. Nicht, weil sie sich nicht erinnerte, sie wusste schlicht nicht, wie es den beiden ging, was sie machten, ob sie noch dort lebten, wo ihre Erinnerung stehen geblieben war, weil ihr niemand erlaubt hatte, sie fortzuführen. Sie ahnte, warum sie nicht mehr ans Telefon gingen, ja nicht mal zum Geburtstag anriefen, kein Lebenszeichen von sich gaben. Sie hatten sich gerettet.
Vielleicht wäre ihr der Tag eingefallen, die Kinder waren noch klein, als sie ihrem Mann zum ersten Mal widersprochen hatte – nicht offensiv, schon gar nicht laut. Ein leiser Einwand, um die Kinder zu verteidigen. Ein Fehler. Am nächsten Tag hatte sie die Kinder krankgemeldet, und als sie am späten Nachmittag einkaufen gegangen war, hatte die stets nette Dame an der Kasse gefragt, ob es nicht ein wenig zu trist draußen wäre für eine Sonnenbrille. Sie hatte noch oft versucht, ihre Kinder zu schützen, doch jedes Mal, wenn sie das tat, war es, als gieße sie Öl ins Feuer. Wie konnte sie es wagen? Später, als sie schon längst aufgegeben hatte und die Kinder sie in jenen Momenten hilfesuchend anschauten, wich sie ihren Blicken aus.
Wahrscheinlich hätte sie sich nicht mehr an das letzte Mal erinnert, als sie gesungen hatte, weil es genauso schleichend aufgehört hatte wie alles andere, was ihr lieb war. Aber sicherlich an die vielen Abende, an denen sie mit ihrem Mann am Küchentisch saß. Nur sie beide, schweigend, was das endlose Ticken der Uhr nur noch lauter erscheinen ließ. Tick, tack, tick, tack, tick, tack, tick, tack. Tick. Tack. Manchmal fragte sie ihn: „Hat es geschmeckt?“, bereute die Frage sofort und zuckte zusammen, wenn er zu einer Antwort ausholte.
Bevor sie zur Brücke gegangen war, hatte Helene Maier einen Umschlag auf den Küchentisch gelegt. Am Abend kam ihr Mann nach Hause. Er machte die gleichen Geräusche wie immer, ließ die Tür mit einem Rumms zufallen, warf die Schlüssel in die Schale auf der Kommode und räusperte sich zweimal, gefolgt von einem kurzen Husten. Dann rief er nach Helene. Das allerdings tat er sonst nie. Warum auch? Sie war ja immer da. Es war nicht die Stille, die ihn rufen ließ, es war der fehlende Geruch von Abendessen. Er ging in die Küche und sah den Umschlag. Er öffnete ihn, zog das Blatt Papier heraus, faltete es auseinander, drehte es um, hin und her.
„Helene?“
Er legte das Blatt ab, nahm den Umschlag, drehte auch ihn.
„Helene?“
Noch einmal das Blatt. Er drehte es wieder, starrte es an. Doch auf dem Blatt stand: nichts.

Puh, ein Ende mit dem ich nicht gerechnet hätte, und so viele Optionen die es hätte noch geben können für evtl. Erläuterungen… aber einfach auch nur Genial geschrieben ☺️
Wow!