Vor ein paar Tagen war ich unterwegs zu einem Termin. Es war kurz vor elf, es war kühl, es regnete und mein Weg führte eine lange Treppe hinauf. Auf halber Höhe der Treppe saß ein Kind auf seinem Schulranzen, die Arme vor sich verschränkt, den Kopf darin versteckt. Das Kind trug schwarze Turnschuhe mit Socken, die nicht über die Knöchel reichten, eine Jeans, einen Kapuzenpulli, den es über den Kopf gezogen hatte, sodass nichts von seinem Gesicht zu sehen war, und eine dünne Daunenjacke.
Ich blieb stehen: „Alles ok?“
„Ja.“ Das Kind schaute nicht auf.
„Wirklich?“
„Ja!“
„Warum sitzt du hier?“
„Weil!“ Noch immer schaute es nicht auf.
„Brauchst du Hilfe?“
„Nein!“
Ich schätzte: zehn Jahre alt, vermutlich ein Junge. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Er rührte sich nicht. Ich zögerte einen Moment, dann ging ich weiter.
Weiter oben stand eine Frau, die auf ihr Handy schaute. Ich fragte sie, ob sie zu dem Kind gehöre.
„Nein, aber der war gestern schon da.“
Eine Stunde später ging ich den gleichen Weg zurück. Der Junge saß noch da, die Jacke durchnässt, er spielte etwas auf seinem Handy. Noch immer konnte ich sein Gesicht nicht sehen.
„Entschuldigung. Ich war vorhin schon mal da.“
„Was?“ Er klang genervt.
„Du solltest hier nicht sitzen. Du wirst doch krank.“
„Ich werde nie krank. Ich war letztes Jahr vielleicht acht Tage krank.“
„Ich finde trotzdem nicht, dass du hier sitzen solltest.“
„Und außerdem soll ich nicht mit Fremden sprechen.“
„Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“
„Ich hab doch gesagt, dass ich nicht mit Fremden sprechen soll.“
„Ok. Bleib nicht zu lange hier, ja?“
Ich ging weiter. Widerwillig. Später am Tag ging ich noch einmal hin, um zu sehen, ob er noch immer da war, aber ich sah nur noch den trockenen Abdruck seines Schulranzens auf der sonst nassen Treppe.
Am nächsten Tag kam ich beim Joggen wieder an der Treppe vorbei. Es regnete nicht, aber der Junge saß da.
Man braucht keine Ausbildung für Krisensituationen, um zu verstehen, dass etwas nicht stimmt, wenn ein Kind drei Tage hintereinander scheinbar stundenlang auf einer Treppe sitzt. Ich ging wortlos an ihm vorbei nach Hause und suchte im Internet nach Hilfsangeboten für Kinder. Ich fand die Nummer gegen Kummer, druckte einen Flyer von ihnen aus und ging wieder zur Treppe. Ich wollte ihm die Nummer nicht einfach auf einen Zettel schreiben. Ich wollte, dass er erkennt, dass das nichts Komisches war, keine Falle, sondern eine offizielle Stelle.
Mein Herz schlug schneller, als ich ihm näher kam, weil ich keine Ahnung hatte, was ich sagen oder tun sollte. Ich hatte Angst, ihm zu nahe zu treten, und genauso Angst, einfach wegzusehen.
Wieder spielte er am Handy.
„Hey.“
„Ja?“
„Ich war gestern schon mal da. Und ich weiß, du sollst mit Fremden nicht sprechen …“
„Und?“
„Gehts dir nicht gut?“
„Da war grade schon mal eine Frau da und der hab ich das auch gesagt, dass ich mit Fremden nicht sprechen darf.“
„Ja, aber eigentlich darfst du hier auch nicht sitzen. Du musst ja in der Schule sein.“
„Da will ich nicht hin.“
„Warum.“
„Ist egal.“
„Das ist nicht egal.“
Ich kniete mich mit etwas Abstand vor ihn und wartete. Ich überlegte, ob ich ihm nicht einfach schnell den Ausdruck in die Hand drücken sollte, erklären, was sie dort anbieten, und wieder gehen. Da sagte er: „Ich möchte nicht wo sein, wo mich alle ignorieren.“
Mein Herz blieb stehen.
„Das verstehe ich. Das verstehe ich sehr gut.“
Zum ersten Mal schaute er mich an. Ich sah seine blaugrünen Augen und die Schatten darunter.
Dann erzählte er mir, er werde gemobbt. Er sei der Kleinste in der Klasse, wenn nicht sogar in der ganzen Schule. Die Polizei sei schon mal eingeschaltet gewesen, weil seine Mutter irgendwann Anzeige erstattet habe, allerdings ohne jede Konsequenz, nur, dass seitdem niemand mehr mit ihm spreche. Bis auf einen. „Der schreibt mir wenigstens noch.“ Und dass er wahrscheinlich sitzen bleiben werde. Wenn nicht dieses Jahr, dann spätestens nächstes.
Ich wollte wissen, ob es jemanden an der Schule gebe, zu dem er Vertrauen habe. Lehrer? Sozialarbeiter?
„Nee. Ist ne Scheißschule.“
„Und habt ihr nicht so was wie einen Klassenrat?“
„Was soll das bringen? Die reden eh nicht mit mir. Und mein Lehrer hasst mich. Der schreit nur.“
Ich fragte, ob es zu Hause besser sei.
Er zuckte mit den Schultern, sprach dann aber weiter. Über seine Mutter, seine kleine Schwester, die in seinen Augen alles bekommt, was sie sich wünscht. Über seine ADHS und seine Mediensucht. „Deshalb streite ich mich die ganze Zeit mit meiner Mutter. Wir zicken uns nur an.“ Er sprach weiter von einer Frau vom Jugendamt, die schon mal da war, der er aber nicht erzählt, wie es wirklich ist, weil er Angst hat, dass er dann ins Heim kommt. „Und was meine Mutter darüber erzählt hat, ist richtig schlimm.“ Er überlegte kurz. „Wenigstens hab ich ein Dach über dem Kopf.“ Und ich fragte mich, ob das reicht, um sich geborgen zu fühlen – denn im Moment saß er im Freien.
Er erzählte von der Schule, von zu Hause, von Dingen, die schwer auszuhalten sind, wenn man dreizehn ist. Über Wut, Rückzug und das Gefühl, nicht dazuzugehören.
„Ich bin ein Versager.“
„Nein, das bist du nicht!“
„Doch, das sagt meine Mutter auch … Aber es ist ein Unterschied, ob man das selbst über sich sagt oder deine Mutter.“
„Es hört sich an, als sei deine Mutter überfordert.“
„Ja, das ist sie. Das weiß ich ja.“
Dann sprach er über sein Handy. Wie er immer neue Tricks findet, um die Bildschirmzeitbeschränkung zu umgehen. Und dass er malt, wenn seine Mutter ihm das Handy wegnimmt.
„Das ist doch toll.“
„Ja, das sagt meine Mutter auch. Sie mag meine Bilder. Aber ich male nur, um die Zeit zu überbrücken, bis ich wieder ans Handy darf.“ Er sagte das nicht stolz, sondern wie jemand, der weiß, dass er ein Problem hat.
„Was bedeutet dir dein Handy?“
„Sicherheit“, sagte er, ohne zu überlegen. „Ein Ort, an dem keiner was von mir will. Wo ich nicht mit Menschen reden muss.“
Ich fragte mich, wie ein Kind drei Tage hintereinander in der Schule fehlen kann und niemand merkt es. Andererseits: Ich kannte nur seine Version der Geschichte. Sicherlich würde seine Mutter etwas anderes erzählen, genauso wie sein Klassenlehrer und die Sozialarbeiterin.
„Wie soll es denn weitergehen? Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens hier auf der Treppe sitzen.“
Wieder zuckte er mit den Schultern.
„Vielleicht gehe ich bald wieder in die Schule.“
„Was wünschst du dir?“
„Dass die anderen mit mir sprechen. Und dass mich meine Mutter fragt, wie es mir geht.“
Nach einer Dreiviertelstunde gab ich ihm den Ausdruck von der Nummer gegen Kummer. „Da kannst du anrufen. Da gibt es Erwachsene und Jugendliche, mit denen du sprechen kannst, auch anonym. Du musst nicht. Aber sie hören dir zu.“
Er nahm den Zettel und schaute ihn kurz an. Es wirkte nicht, als hätte er schon mal davon gehört. Woher auch – mit dreizehn? Er faltete den Zettel klein.
„Ich muss jetzt los. Ich friere. Aber hörst du? Du bist nicht allein.“
Er sah mir in die Augen, als wolle er wissen, ob er mir glauben kann. Ich war mir selbst nicht sicher.
Wo ist der Ort für ein Kind mit zu viel Einsamkeit, Angst und ADHS?
Was passiert, wenn eine Mutter so überfordert ist, dass sie nicht mehr fragt: Wie geht es dir? Was brauchst du?
Was gibt einem Kind Halt?
Was nimmt ihm die Angst?
Wie gewinnt man Vertrauen? Und wie verliert man es?
Was bedeutet es, sich sicher zu fühlen, wenn der sicherste Ort in eine Hosentasche passt?
Wie hilft man einem Kind, das längst beschlossen hat, dass ihm niemand helfen kann?
Ab wann gilt man als unversehrt?
Ich weiß nicht, ob er jemals dort anrufen wird. Aber ich hoffe, dass der Zettel noch irgendwo in seiner Jackentasche ist, falls er ihn braucht.
Hat mich gerade ziemlich mitgenommen. Chapeau für dein Einfühlungsvermögen. 🧡
😢 leider viel öfter Realität als man sich wohl eingestehen möchte …
Sehr schwere Kost aber das hast Du wieder Mega gut geschrieben