Um kurz nach 16 Uhr trat Gaston durch den Hintereingang in die Gasse, wo der Duft von gebratenem Speck auf den Gestank der Mülltonnen traf und sich zu einer atemberaubenden Melange vermischte. Er hielt die Luft an. Etwas abseits standen zwei Köche unter einem Balkon. Sie rauchten, ihre Köpfe gesenkt. Gaston nickte ihnen zu, doch sie sahen ihn nicht. Sie schienen in Gedanken an einem anderen Ort zu sein – einem kühleren, an dem niemand schwitzte, sich verbrannte oder zehn Gerichte gleichzeitig zubereiten musste.
Er ging weiter bis zu einem kleinen Imbisswagen, wo es getoastete Baguettes für 5,50 Euro für jene Touristen gab, die sich keines der Restaurants leisten konnten. Daneben stand ein alter Olivenbaum, umgeben von einer Mauer aus Stein, auf die sein Schatten fiel. Gaston blieb davor stehen, steckte seine Hand in die Hosentasche und zog routiniert zwei Taschentücher heraus. Das eine öffnete er, legte es glatt auf den Stein und setzte sich vorsichtig darauf. Dann zog er sein schwarzes Jackett aus, legte es ebenso vorsichtig über seinen Schoß und wischte sich mit dem anderen Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
Neben ihm saß eine Familie: Mutter, Vater, zwei Töchter im Teenageralter, ein Sohn, vielleicht fünf oder sechs, der als Einziger nicht saß, sondern um den Baum herum rannte. Kurz überlegte Gaston, ihm ein Bein zu stellen. Einfach so. Er stellte sich das Gesicht des Kindes vor, gerade noch lachend, beim Fall erschrocken, auf dem Boden schmerzverzerrt. Er stellte sich den Vater vor, der nichts davon mitbekäme, die kichernden Schwestern und die Mutter, die ihr Baguette fallen lassen würde, in der Hoffnung, den Jungen rechtzeitig aufzufangen. Kurz grinste Gaston, dann erinnerten ihn seine Füße daran, dass nichts an Schmerz lustig war. Er zog einen Schuh aus und fing an, seinen Fuß zu massieren. Die Mutter hörte auf zu kauen und rutschte ein Stück zur Seite.
Schwarze Lackschuhe. Fünfzig Euro im Schlussverkauf, eine halbe Nummer zu klein. „Die weiten sich mit der Zeit noch“, hatten sie im Laden gesagt, doch das war nie passiert. Als er damals nach Hause gekommen war, hatte er die Schuhe in einer Plastiktüte unter seinem Bett versteckt. Den Karton hatte er gar nicht erst mitgenommen. Ein Umtausch war ausgeschlossen und niemand musste wissen, dass er sich Schuhe für 50 Euro gekauft hatte. „Dieselben hättest du für 20 Euro hier um die Ecke bekommen“, hätte seine Mutter gesagt und Gaston hätte gedacht: Es heißt die gleichen. „Ah, der feine Herr hat sich feine Schuhe gekauft“, hätte seine Schwester gesagt und Gaston hätte versucht, es zu überhören und an nichts zu denken.
Gaston arbeitete in zwei Schichten. Morgenschicht: frisch gepresster Orangensaft mit und ohne Fruchtfleisch, Eier mit Speck, Obstsalat, Avocado auf Toast, „Ist die Butter vegan?“, Eggs Benedict, Latte macchiato, „Haben Sie Hafermilch?“, „Haben Sie Ziegenmilch?“, „Geht das auch ohne Milch?“. Die Frauen waren wunderschön, kamen schon morgens in hohen Schuhen und kurzen Kleidern. Gaston fragte sich oft, ob ihnen die Füße genauso wehtaten wie ihm. Ob sie den Schmerz genauso übergingen wie er? Sie hatten lange Haare, rote Nägel, große Lippen. Die Männer kamen frisch rasiert, trugen Sonnenbrille, Polohemd, roséfarbene Shorts und Mokassins. Viele der Männer wirkten, als hätten sie den Anblick ihrer Frauen schon so sehr verinnerlicht, dass sie wahlweise auf ihr Handy, in die Zeitung oder ins Leere starrten. Gaston konnte sich keinen Reim auf diese Gleichgültigkeit machen. Würde er später auch so werden?
Manchmal, wenn er eine besonders schöne ignorierte Frau sah, stellte er sich vor, wie er ihre Hand nahm, den Zeigefinger auf seine Lippen legte, „Schhhhhhh“, sie mit sich zog, um die Ecke, wo beide ihre Schuhe ausziehen und losrennen würden. „Wir sind frei“, würde er rufen und lachen und rennen, bis zur nächsten Ecke, hinter der er nicht mehr wusste, wohin.
„Die Rechnung bitte.“
„Sehr gern. Schön, dass Sie wieder unsere Gäste waren, Madame, Monsieur.“
In der Spätschicht kamen die gleichen Menschen in anderer Kleidung. Die Tische wurden zusammengeschoben, damit große Gruppen Platz fanden, die Luft wurde stickiger, die Lautstärke höher. Die wichtigste Regel am Abend: Gläser durften nie leer sein. Gaston war immer wieder beeindruckt davon, wie viel Alkohol Menschen trinken und immer noch aufrecht gehen konnten.
Gaston zog den zweiten Schuh aus und betrachtete seine Füße. Die Haut war wund, die Socken klebten daran. Der Schmerz war sein ständiger Begleiter, fast schon tröstlich in seiner Verlässlichkeit. Der Junge, der gerade noch um den Baum gerannt war, stand plötzlich still und starrte ihn an. „Warum bist du in Socken?“
„Weil meine Schuhe zu eng sind.“
„Warum trägst du sie dann?“
Kurz überlegte Gaston, ihm zu sagen, dass er sich kein anderes Paar leisten könne. Dann schämte er sich und zuckte nur mit den Schultern. Der Junge zuckte zurück und fing an zu lachen. Es war das unschuldige Lachen eines Kindes, das die Welt als das begreift, was sie sein sollte: ein Ort voller Zuversicht. Gaston spürte Wut in sich. Er konnte nur nicht sagen, gegen wen sie gerichtet war. Er drehte sich weg.
Zwei Paare überquerten den Platz, die Frauen voraus, ihre Männer hinterher, mit einem Eis in der einen Hand und großen Tragetaschen aus Karton in der anderen. Sie steuerten auf ein Bekleidungsgeschäft zu, in dessen Schaufenster kein Teil unter 500 Euro angepriesen wurde. Gaston kannte die Preise, er war ja jeden Tag hier. Doch er wusste weder, warum er sich die Preise anschaute, noch, warum er sie sich merkte.
Warum trägst du sie dann?
Gaston schloss die Augen. Vor sich sah er den Küchentisch, an dem seine Mutter gesessen und Kartoffeln geschält hatte. „Kellner also“, hatte sie geantwortet, als er ihr von seinem neuen Job erzählt hatte. „Was ist das für ein Restaurant?“
„Ein gutes.“
„Am Hafen?“
„Fast. Aber ich musste so ein Verschwiegenheitsding unterschreiben.“
„Ein was?“
„Das ist ein Vertrag, in dem ich verspreche, keine Informationen über Gäste weiterzuerzählen. Das macht man, weil da auch Reiche und Promis hingehen.“
„So, so. Zahlen sie wenigstens gut?“
„Geht so, aber ich kann mein Trinkgeld behalten.“
„Na, dann streng dich mal besser an. Kannst ja froh sein, dass du was gefunden hast nach dem letzten Desaster.“
„Ma, ich konnte da nichts für.“
„Das macht es nicht besser.“
„Ma!“
„Er hat recht, Ma! Ausnahmsweise …“ Im Türrahmen lehnte Gastons Schwester. Sie grinste. Er verdrehte die Augen. „Was für eine Karriere“, sagte sie. „Vom Gabelstaplerfahrer zum Diener der Reichen …“
„Schnauze!“
„… denen du Champagner einschenkst, während sie arme Leute ausbeuten. Und wenn die dritte Flasche dann doch eine zu viel war, stolpern sie, schlagen sich den Kopf auf und kommen zu mir ins Krankenhaus, wo ich ihnen die Verbände wechseln darf.“
„Zum Glück hast du keine Vorurteile.“
„Ich sag nur, wie es ist.“ Er drückte sich an ihr vorbei. „Pass einfach auf dich auf, Brüderchen. Mehr sag ich nicht.“
Gaston ging in sein Zimmer, fast hätte er die Tür hinter sich zugeschlagen, aber er wusste, dass das nie zu etwas Gutem führte. Er holte einen Zehn-Euro-Schein aus seiner Tasche und faltete ihn klein. Ein Tag Probearbeit: 60 Euro Trinkgeld. Wenn das jeden Tag so liefe, dann … Er wagte es nicht, weiterzudenken. 50 Euro hatte er seiner Mutter in den Geldbeutel gesteckt. Das restliche klein gefaltete Etwas schob er in eine FIFA-Videospielhülle.
Gaston sah, dass sich der Junge jetzt neben ihn gesetzt hatte und auf die Schuhe starrte. „Ich würde die nie tragen. Dann lieber barfuß. Barfuß ist besser.“
Gaston nahm die Schuhe in die Hand. Sie waren warm von der Sonne. „Die weiten sich noch“, murmelte er und lachte. Es klang bitter. Er zog die Schuhe an, stand auf und lief los. Jeder Schritt schmerzte, sein Gesicht blieb regungslos. Er wusste, dass das Adrenalin später jedes Gefühl überdecken würde: „Wir sind doch zu zehnt. Ist das ein Problem?“, „Service! Zwei Vorspeisen an Tisch drei!“, „Ich glaube, der Wein korkt!“, „Haben Sie Eiswürfel?“, „Vorsicht! Heiß!“, „Der Wein ist zu kalt!“, „Entschuldigung, aber das Fleisch blutet!“, „Ich wollte den Fisch nicht im Ganzen!“, „Die Pasta muss raus! Jetzt!“, „Service!“, „Service!!“, „Service!!!“.
Pünktlich wie immer war er zurück im Restaurant. Ein Blick auf die Uhr bestätigte es, aber den hätte Gaston nicht gebraucht. Am Tresen stand sein Chef, ein breiter Mann mit glänzendem Gesicht und aufgesetzter Freundlichkeit. Die kahlen Stellen auf seinem Kopf versuchte er mit Haarsträhnen zu kaschieren, doch seine Unsicherheit darüber verriet sich jedes Mal aufs Neue, wenn er seinen Kamm aus der Jackentasche holte und die Strähnen sorgfältig wieder ordnete. „Na, am Hafen gewesen und bei den Damen Charmeur gespielt?“ Er kreiste mit seiner dicken Hüfte und lachte dabei laut und schwerfällig. Gaston verstand die Frage nicht.
„Nur frische Luft geschnappt.“
„Gut so. Frische Luft hält einen wach. Nichts ist schlimmer als ein müder Kellner.“
„Ich bin nicht müde.“
„Gut! Besser so! Los, los jetzt! Eindecken!“ Die Stimme des Chefs war schlagartig eine andere. Gaston blieb ruhig. Er kannte das. Nach unterschiedlichen Versuchen, schlau aus seinem Chef zu werden, hatte er sich letztlich für eine höfliche Distanz entschieden. Er nahm nach Feierabend keinen Drink von ihm an – aber auch keine unberechtigte Kritik.
Das Restaurant füllte sich wie eine Flutwelle, erst langsam, dann schlagartig. Gaston bewegte sich zwischen den Tischen mit der Leichtigkeit eines Tänzers. Es entging ihm nichts: keine leere Flasche, keine heruntergefallene Gabel, die er im Vorbeigehen durch eine frische ersetzte. Er spürte es, wenn jemand nach ihm Ausschau hielt, sah es, wenn jemand in Eile war oder unzufrieden. Er erkannte sofort, mit wem er zwei Sätze mehr wechseln musste und wen er besser in Ruhe ließ. Er erriet Bestellungen, bevor sie ausgesprochen wurden, und lag erstaunlich selten daneben. Sein Auftreten war so präzise, dass es ihn fast unsichtbar machte.
Es war ihm leicht gefallen, diese Rolle anzunehmen. Er wusste, wie er auftreten musste, um die Anerkennung der Gäste zu gewinnen. Doch manchmal irritierte ihn genau das: Wie nahtlos er sich einfügte. Wie wenig von ihm selbst dafür übrig bleiben musste. War er selbst gemeint oder nur der, der er vorgab zu sein? Und was blieb abseits dieser Rolle? Eine Mutter, die gelernt hatte, dass Härte vor Verletzungen schützt. Eine Schwester, die zwischen Spott und Fürsorge schwankte, als wüsste sie selbst nicht, wie sie zu ihm stehen sollte. Freunde, die sich trafen, während er arbeitete. Ein Leben, das kaum mehr als eine endlose Abfolge von Verpflichtungen war. Und immer wieder die Fragen: Wie lange noch? Und was dann?
Noch vor ein paar Monaten hätte er sich diese Fragen gar nicht gestellt. Er hatte eine Festanstellung gehabt, geregelte Arbeitszeiten, 25 Tage Urlaub im Jahr und verdiente gut für einen Lageristen. Er träumte sogar von einer eigenen Wohnung. Aber dann war dieser Tag gekommen, an dem wortwörtlich alles in sich zusammengefallen war. Es war kurz vor Feierabend, Gaston hatte den Gabelstapler gerade abgestellt und zerkleinerte Weinkartons, die irgendjemand achtlos hatte liegen lassen, als er ein Lachen hörte. Er drehte sich um. Es war Nicolas, ältester Sohn des Chefs, der immer mal wieder im Lager arbeitete, „um den Ernst des Lebens zu lernen“, wie sein Vater jedes Mal aufs Neue betonte.
Nicolas hatte zwei Freunde dabei. Ein kurzer Gruß – „Hi“, „Hi“ – als sie an Gaston vorbeiliefen. „Klar kannst du“, hörte Gaston Nicolas noch sagen, schon waren sie um die Ecke gebogen. Das nächste, was er hörte, war das Brummen des Gabelstaplers, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Lärm. Er riss den Kopf herum und sah, wie die Regale wie Dominosteine aufeinander kippten. Es dauerte nur Sekunden, bis ein Berg von kaputten Weinkisten und Glasscherben auf dem Boden lag und sich der Geruch von Wein im Raum verteilte. Gaston stand regungslos da, dann begriff er, was passiert war. Ohne zu überlegen, rannte er los. Doch der Wein ließ ihn rutschen, als wäre der Boden aus Glatteis. Der Aufprall war hart. Etwas Scharfes schnitt in seine Haut. Als er aufstand, floss Blut seinen Arm hinab, aber er spürte noch keinen Schmerz. Er sah Nicolas. Zeitgleich fragten sie einander: „Alles okay?“
„Ich blute.“
„Ich nicht.“
„Dein Glück. Was ist passiert?“
Nicolas und seine Freunde standen schweigend nebeneinander, Gaston sah an sich herab: Wein, Blut, alles rot. Plötzlich: „Was zur Hölle?“ Der Chef. Alle vier drehten sich um und stellten sich hin, wie Soldaten beim Appell. „Was ist passiert?“ Schweigen.
Am nächsten Tag hatte Gaston seine Entlassungspapiere auf dem Tisch. Jeder Versuch, sich zu erklären, war abgeschmettert worden.
„Warum bist du schon hier?“, hatte seine Mutter gefragt, als er mittags zu Hause stand. Den Verband am Arm schien sie nicht zu bemerken.
„Ich bin raus.“
„Wie raus?“
„Raus. Gefeuert.“
„Gaston!“
„Ich kann nichts dafür.“
„Man kann immer was dafür.“
„Das stimmt nicht.“
„Und was ist passiert?“ Ihre Stimme klang müde und genervt.
Gastons Herz zog sich zusammen. Er atmete kurz und flach. Sein Arm schmerzte. Er wollte nicht weinen. Reiß dich zusammen!
„Der Sohn vom Chef hat gedacht, es wäre eine super Idee, seine Freunde mit dem Gabelstapler fahren zu lassen.“
„Und was hast du damit zu tun?“
„Sie haben ein Regal umgefahren, was auf ein anderes Regal gefallen ist und so weiter. Und am Ende lagen da ein paar Hundert Flaschen Wein kaputt auf dem Boden.“
Seine Mutter schaute ihn weiter fragend an.
„Sie haben gesagt, dass sie es nicht waren. Und ich war als Letztes als Fahrer eingetragen. Und dann stand ich auch noch direkt daneben.“
„Warum?“
„Ich wollte helfen.“
„Ja, dann musst du das eben klarstellen.“
„Hab ich doch. Ich habs versucht.“
Seine Mutter zögerte. Jetzt sah sie den Verband und erschrak.
„Bist du verletzt?“, fragte sie besorgt, fast sanft und Gaston spürte, wie ein Schauer durch seinen Körper lief.
„Das ist nicht schlimm.“
„Zeig mal.“
Sie nahm seinen Arm und fuhr über den Verband, der sich vom Blut rot gefärbt hatte.
„Den musst du wechseln.“
„Ja, mach ich.“
„Nein, ich mach das.“
Sie suchte den Anfang des Verbands und rollte ihn langsam auf.
„Warum hast du dich nicht gewehrt?“
„Das hab ich doch.“
Gaston sah, wie sich für Sekundenbruchteile Tränen in den Augen seiner Mutter bildeten. Gaston wusste nicht, ob es ein Fluch oder eine Gabe war, dass sie ihre Tränen wieder runterschlucken konnte. Aber sie konnte es.
„Und wer bezahlt jetzt die Miete?“
Gaston ging auf einen Vierertisch zu: zwei Männer, zwei Frauen, alle um die 60. Sie waren zum ersten Mal Gäste, schienen unkompliziert, nur einer der Männer war sehr laut. Gaston wusste, wie er mit dieser Art von Gästen umgehen musste: über jeden Witz lachen, schnell, aber harmlos antworten, ihnen das Gefühl geben, sie seien der Mittelpunkt des Abends.
Ihre Weinflasche steckte umgedreht im Kühler. „Ah, der Retter des Abends“, sagte der Laute. Gaston nickte höflich und öffnete eine neue Flasche. „Wer möchte probieren?“ Der Mann winkte ab: „Passt schon.“ Gaston füllte die Gläser in gleichmäßigen Bewegungen, die vier schauten ihm schweigend zu, und als sei ihm die Stille unangenehm, platzte es aus dem Lauten heraus: „Sie erinnern mich an jemanden!“ Die Frau neben ihm, augenscheinlich seine Ehefrau, legte ihre Hand auf seinen Arm. Er zog seinen Arm weg, als hätte sie ihn verbrannt. „Wie heißt der Schauspieler noch? Der von Ziemlich beste Freunde. Der Krankenpfleger! Der … wie sagt man heutzutage zu euch? … der Schwarze da.“
Seine Frau verzog das Gesicht. „Kannst du es nicht einmal lassen?“ Sie drehte sich zu Gaston: „Entschuldigen Sie!“
„Ja, stimmt!“, rief der andere Mann, als hätte er eine Erleuchtung gehabt. „Jetzt, wo du es sagst. Aber das sind Sie aber nicht. Oder?“
Gaston stellte die Flasche ab. „Nein, Monsieur. Das bin ich nicht.“
„Sicher? Ihr könntet Zwillinge sein.“
„Interessant, was Menschen in einem sehen – und was nicht.“
Die beiden Männer zogen erst die Augenbrauen zusammen, dann schauten sie Gaston erwartungsvoll an, als warteten sie auf eine humorvolle Auflösung dessen, was er gerade gesagt hatte.
„Haben die Herrschaften noch einen Wunsch?“
„Na, um ein Autogramm muss ich dann ja jetzt nicht bitten. Also nein“, rief der Laute, lachte und schaute dabei die anderen an, als suche er Bestätigung für seine Schlagfertigkeit. Gaston hielt kurz inne, legte die Finger prüfend auf den Flaschenhals, als wolle er sicherstellen, dass sie richtig stand, und nickte schließlich: „Natürlich. Es war mir eine Freude, Sie unterhalten zu dürfen.“ Während Gaston zur Bar ging, spürte er den Blick der Frau, die sich entschuldigt hatte. Er schaute auf die Uhr, eine Stunde noch. Und morgen geht das Spiel von vorne los. Er dachte an den Schauspieler und stellte sich vor, wie frei und unabhängig er sein musste, bewundert, umschwärmt, vielleicht sogar geliebt.
„Träumst du?“ Gaston erschrak. „Hier, Tisch sechs“, seine Kollegin streckt ihm zwei Teller hin. „Sorry, klar.“ Er nahm die Teller und ging zum Tisch. Dort angekommen, hatte er längst wieder in seine Rolle zurückgefunden.
In dieser Nacht war die Luft warm und träge. Gaston lief mit schnellen Schritten durch die Gasse, die jetzt leer war. Am Olivenbaum blieb er stehen. Der Imbiss war geschlossen, die Stadt zur Ruhe gekommen. Kurz tastete er nach einem Taschentuch – vergeblich. Also setzte er sich ohne eins auf die Mauer.
Dann lieber barfuß.
Er zog die Schuhe aus, dann die Socken. Der Boden kühlte seine Füße.
Barfuß ist besser.
Ein paar Atemzüge lang saß er mit geschlossenen Augen da. Dann stand er auf, nahm die Schuhe in die Hand und lief los. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er sich selbst. Er lief weiter, immer weiter, über den Platz, an dem tagsüber Obst und Gemüse verkauft wurde, den Berg hinauf, wo er kurz außer Atem war, in das kleine Viertel, das er sein Zuhause nannte, und in die Straße, in der er schon als Kind auf dem Bordstein balanciert hatte, als wäre dieser ein schmaler Steg über einer tiefen Schlucht. Das Haus lag dunkel vor ihm. Vorsichtig öffnete er die Haustür nur einen Spalt, damit ihr Quietschen niemanden weckte. In der Wohnung schlich er sich in sein Zimmer, zog seinen Anzug aus und setzte sich auf das Bett. Er schaute auf das Regal, in dem neben ein paar alten Pokalen und einem gerahmten Bild von Zizou – für ihn der größte Fußballspieler aller Zeiten – auch seine Videospiele standen. Die FIFA-Hülle, zweite von rechts, stand da wie immer, sie war inzwischen nur praller als der Rest. Er zog sie heraus, drehte sie zwischen den Fingern, spürte ihr Gewicht.
Wie lange noch? Und was dann?
Ein paar Mal tippte er mit dem Daumen gegen die Kante der Hülle, so wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Schließlich stellte er sie zurück, legte sich hin und starrte an die Decke. Sekunden vergingen. Minuten. Er hörte sein Herz. Es schlug schneller als sonst und lauter. Dann streckte er den Arm aus und löschte das Licht.
Ich freue mich über Gedanken zu diesem Text, auf welchem Weg auch immer. Die letzten Ausgaben des Newsletters gibt es hier.
Ich mag befangen sein, aber ich finde wunderbar, dass Du hier Langtext machst. Habe ich hier noch viel zu wenig gefunden, aber ich liebe das Format. Viel näher als ein Buch, aber genauso schön erzählt.
Ich muss gestehen das ich hinter Gaston keinen farbigen Mann vermutet habe sondern eher an die Bretagne gedacht habe, einen typischen weißen Franzosen halt ☺️ . Die Geschichte zeigt viel Realität; Freud und Leid so dicht beieinander aber leider auch bitterer Alltag. Und Ehrlichkeit und Glauben und Vertrauen , was heutzutage schwer ist …
Danke für diese Geschichte
Dein Blümchen