Ich mag keinen Streit. Eigentlich. Denn je nach Inhalt, Tonfall und Gegenüber kann er bei mir ein Unbehagen auslösen, das stunden-, manchmal sogar tagelang anhält. Trotzdem weiß ich: Streit, wenn er konstruktiv ist, lässt mich wachsen – und die andere Person auch. Er schärft Ideen, fordert altes Denken heraus und öffnet den Raum für Veränderung. Ohne Auseinandersetzung keine Entwicklung, weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft.
Doch was als produktiver Austausch beginnen könnte, mündet zunehmend in einen destruktiven Kampf um Deutungshoheit. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als in digitalen Kommunikationsräumen, die inzwischen nicht mehr nur verbinden, sondern zu einer Bühne geworden sind, auf der andere Spielregeln gelten: Algorithmen belohnen Empörung, Zwischentöne verblassen, Urteile werden in Sekundenbruchteilen gefällt. Wer im richtigen Moment nicht die richtige Haltung zeigt, wird zur Projektionsfläche für alles, was man verachtet. Wir sehen Menschen nicht mehr als Individuen mit einer Geschichte, Zweifeln und Widersprüchen, sondern als Symbole, als Repräsentanten einer Haltung. Wir glauben zu wissen, was sie wirklich meinen – und verlernen dabei, es tatsächlich herausfinden zu wollen.
Die Konsequenz? In einer Welt, in der Fehler keine Nuancen mehr kennen, bleibt auch für uns selbst kaum noch Raum für Irrtum. Wir grenzen uns ab und ziehen uns in gesellschaftliche Lager und deren Gewissheiten zurück. So wird die Grenze zwischen richtig und falsch, zwischen akzeptabel und untragbar, zwischen „einer von uns“ und „einer von denen“ immer schärfer gezogen. Doch genau hier beginnt der Zerfall der Verbundenheit. Ohne die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, verlieren wir nicht nur den Bezug zueinander, sondern auch zu uns selbst. Denn der Mensch ist von Natur aus widersprüchlich. Leben bedeutet, sich in Spannungen zu bewegen, nicht in der Sicherheit fester Antworten.
Diese Dynamik bleibt nicht auf die digitale Welt beschränkt. Ein Satz im falschen Moment, eine Haltung, die verstört, eine Meinung, die nicht ins erwartete Raster passt – und plötzlich wird ein Kollege gemieden, eine Einladung bleibt aus und Familienfeste werden zu Minenfeldern. Ein Austausch wird zum Loyalitätstest: bedingungslose Zustimmung oder radikale Ablehnung. Das ist kein Zufall. Es ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Klimas, das Unsicherheit mit Schwäche verwechselt und Zweifel mit Verrat. Was aber geschieht, wenn wir Menschen als hoffnungslos verloren betrachten? Wenn wir ihnen die Fähigkeit zur Entwicklung absprechen? Dann bleibt keine Brücke mehr, sondern nur noch der Abgrund.
Das Paradoxe daran ist, dass viele, die sich für Empathie aussprechen, genau diese dann nicht gewähren, wenn sie mit einer unliebsamen Meinung konfrontiert werden. Empathie gilt nur denen, die ins eigene Weltbild passen. Alle anderen gelten nicht mehr als fehlbare Menschen, sondern als ideologische Bedrohung. Doch echtes Mitgefühl ist eine Haltung, die sich gerade dann zeigt, wenn sie herausgefordert wird. Es fordert uns auf, Ambivalenz, Meinungsvielfalt und Komplexität anzuerkennen und auszuhalten. Das Gespräch zu suchen, wo Schweigen oder Abbruch die leichtere Wahl wäre. Nach Verbindung zu streben in einer Zeit, die auf Spaltung setzt. Und in einem Klima, das nach Konformität verlangt, den Mut zu haben, die eigene Haltung zu hinterfragen. Echtes Mitgefühl beginnt dort, wo es uns am schwersten fällt.1
Doch genau an dieser Stelle scheitern wir. Stattdessen attackieren wir, machen andere lächerlich oder schlagen verbal zu – und hoffen, damit zu überzeugen? Wann hat das jemals funktioniert? Noch nie hat ein Mensch seine Meinung geändert, weil er bloßgestellt oder an den Pranger gestellt wurde. Verständnis entsteht nicht durch Druck, sondern durch Dialog.
Diese Entwicklung bleibt nicht folgenlos. Viele Menschen ziehen sich zurück, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Sorge vor dem Preis, den sie für einen falschen Satz zahlen könnten. Öffentliche Diskussionen verlieren an Tiefe. Wenn Menschen aber aus Angst nicht mehr sprechen, gibt es keinen Fortschritt, sondern Stillstand. Und Stillstand ist in einer Welt, die ständiger Entwicklung bedarf, nichts anderes als Rückschritt. Besonders online entsteht dadurch ein gefährliches Ungleichgewicht: Wer schweigt, überlässt das Feld jenen, die am lautesten sind – und die am wenigsten bereit sind, zuzuhören.
Der Ausweg aus der Sackgasse beginnt mit einer Rückbesinnung darauf, dass Menschen mehr sind als ihre Meinungen. Dass sie wachsen können. Dass sie Fehler machen dürfen. Dass eine Gesellschaft, die auf permanente moralische Wachsamkeit setzt, nicht resilienter, sondern fragiler wird. Es beginnt mit der Bereitschaft, zuzuhören, bevor wir urteilen, und Widerspruch zu ertragen – und auch mit dem Mut, sich die Frage zu stellen:
„Was, wenn ich mich irre?“
Warum sich das lohnt? Es nutzt uns allen. Wir können andere Menschen nicht auf den Mond schießen, selbst wenn wir uns das wünschen. Wir werden auch in Zukunft miteinander auf diesem Planeten leben müssen. Und wir täten gut daran, es so friedlich wie möglich zu tun. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Werte aufgeben oder jede Meinung akzeptieren müssen. Aber es ist ein Unterschied, ob wir von der denkbar schlechtesten Absicht unseres Gegenübers ausgehen oder von der besten. Wir haben es selbst in der Hand, wie wir auf Menschen zugehen. Warum fragen wir nicht: „Wie meinst du das genau? Wie bist du zu dieser Überzeugung gekommen? Gibt es einen Punkt, an dem wir übereinstimmen?“
Wer jetzt fragt: „Warum soll gerade ich derjenige sein, der sich selbst hinterfragt und anderen mit Neugierde und Wohlwollen begegnet?“, den frage ich zurück: „Warum nicht?“ Es ist leicht, sich den kollektiven Reflexen anzuschließen und in verhärteten Fronten zu verharren. Echte Stärke aber zeigt sich im Bruch mit dieser Gewohnheit. Natürlich kann man sich damit in eine verletzliche Position bringen. Wenn alle die Fäuste heben, möchte man nicht der Einzige sein, der die Hand zur Versöhnung ausstreckt. Ein blaues Auge scheint garantiert. Doch es besteht auch die Möglichkeit, dass ein Gegenüber die Geste als das erkennt, was sie ist: eine Einladung zur Menschlichkeit – und ebenfalls die Hand reicht. Und vielleicht beginnt genau dort eine neue Art des Gesprächs.
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Wer respektvoll kommunizieren möchte, ohne die Menschlichkeit des Gegenübers aus dem Blick zu verlieren, dem empfehle ich die drei Prinzipien der „Theory of Enchantment“ von Chloé Valdary:
Treat people like human beings, not political abstractions.
Criticize to uplift and empower, never to tear down or destroy.
Root everything you do in love & compassion.
Zu Deutsch:
Behandle andere wie menschliche Wesen, nicht wie politische Symbole.
Kritisiere, um andere aufzubauen und zu stärken, nicht um sie niederzumachen oder zu vernichten.
Lasse dich in deinem Handeln stets von Mitgefühl und Liebe leiten.
Na toll, und wo fange ich an mit den Restacks? Jeder. Satz. Ein. Zitat. Wert.
"Nehmen sie die Menschen, wie sie sind. Andere gibt's nicht."