Bei mir in der Straße gibt es einen indischen Lebensmittelladen. Es ist einer dieser Läden, in denen Neonröhren ungemütliches Licht machen und alles, was man kaufen kann, irgendwie irgendwo hineingestellt worden ist. Ich mag es dort. Es gibt indische Gewürze und ayurvedische Öle, frische Samosas und Fertigsuppen, getrocknete Früchte und Schokoriegel, Feuerzeuge und Zigaretten, Nudeln und Milch und Mehl. Einfach alles. Aber eigentlich kommen die meisten Menschen nur, um Pakete abzuholen oder wieder hinzubringen.
Seit Neuestem hat der Besitzer einen kleinen indischen Helfer.1 Ich meine das nicht despektierlich. Er ist wirklich klein. Und sehr zierlich. Meistens trägt er große, bunt gemusterte Pullis. Ich glaube, sie sind alle aus Polyester. Ich glaube das, weil es immer nach Gewürzschweiß riecht, wenn er dort arbeitet. Er hat einen Bart, dessen Enden sorgfältig nach oben gezwirbelt sind, und trägt die größte schwarze Brille, die ich je gesehen habe. Auf dem Kopf hat er eigentlich immer eine Baseballkappe von Adidas, die an der linken Seite des Schilds ein Loch hat. An diesem Loch ist ein Ring befestigt, durch den er den Bügel seiner Brille gesteckt hat. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht hat er Angst, die Brille zu verlieren. Das allerdings erscheint mir angesichts ihrer Größe unmöglich.
Er spricht kaum Deutsch. „Hallo“, kann er sagen, außerdem „Abholen?“, „Straße?“, „Hausnummer?“ und „Zurück?“. Aber dafür lächelt er immer sehr nett. Und das ist mitunter wichtiger, als eine Sprache zu sprechen.
Als ich neulich dorthin ging, um ein Paket abzugeben, sah ich ihn schon durch das Fenster. Er saß an der Kasse und hatte eine Piccoloflöte an den Lippen. Ich fand, sie stand ihm sehr gut, hörte aber nichts von dem, was er spielte, denn als ich durch die Tür trat, setzte er sie ab und lächelte mich an, als sei er verlegen. „Zurück?“ Er zeigte auf mein Paket.
„Ja, aber spielen Sie ruhig weiter.“
Einen Moment lang schaute er mich an, als versuche er, schlau aus meinen Worten zu werden. Vergeblich. Also zeigte ich auf seine Flöte, dann auf ihn und fing an, Luftflöte zu spielen. Das sah wohl lustig aus, denn jetzt lachte er und streckte mir die Flöte hin. Ich schüttelte den Kopf und zeigte noch einmal auf ihn. Und jetzt war er es, der den Kopf schüttelte.
„Schade“, sagte ich, und der Rest meines Körpers wohl auch, denn irgendetwas an mir ließ ihn verstehen. Er lächelte wieder – nicht mehr verlegen, eher entschlossen – atmete ein, setzte die Flöte an den Mund, schloss die Augen und spielte einen sehr langen Ton, gefolgt von einem zweiten sehr langen Ton. Dann hielt er inne und horchte in den Raum hinein, als würde er prüfen, ob der Klang nachhallt. Er nickte zufrieden, steckte die Flöte ein, nahm mein Paket und sagte: „Zurück!“
Wie immer freue ich mich über Gedanken zu diesem Text.
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Diesen Text habe ich 2018 geschrieben.
Als würde ich ihn kennen, weil ich all die Gerüche kenne
Ich konnte alles shen, riechen und hören :) Danke dafür!